Wir fuhren auf die Grenze zu. Ein grimmig dreinschauender Mann mit dunkelgrüner Uniform kam auf unser Wohnmobil zugelaufen. Mein zwei Jahre älterer Bruder und ich, wir sollten ruhig sitzen bleiben, hatte mein Vater uns gesagt. Das Reden übernehme er.
Durch das heruntergekurbelte Fenster wurden unsere Pässe übergeben und der grimmige Mann warf einen prüfenden Blick in das innere unseres Wohnmobils. Er sah die verunsicherten Gesichter von meinem Bruder und mir und meine Mama. Außerdem sah er viele hölzerne Einbauschränke. Und er sah eine Holzverkleidung an den Wänden.
Mein Vater hatte das Wohnmobil vollständig selbst ausgebaut und die Wände mit Isolierung und Holz verkleidet. Auch wenn er nach außen die Ruhe in Person ausstrahlte – so war es vielleicht genau das, was den Grenzer verunsicherte. Aus heutiger Sicht bin ich sicher, dass mein Vater in diesem Moment schon vor seinem inneren Auge ausmalte, wie er sämtliche Verkleidungen demontieren müsste, um zu beweisen, dass wir keine Zeitungen schmuggelten.
Die Pässe wurden in ein Häuschen getragen. Wir mussten alle aussteigen. Nun sah ich, dass bereits weitere Männer um unser Wohnmobil herum standen. Sie hatten Spiegelwägen dabei – so was wie einen Sackkarren, aber mit einem schrägen Spiegel auf Bodenhöhe. Den Spiegel schoben sie von allen Seiten unter das Auto. Wie mir meine Eltern nachher sagten, um auch dort nach „Schmuggelware“ zu suchen.
Das ganze zog sich noch 1-2 Stunden, bevor wir dann zum Glück doch endlich weiter fahren durften. Wir hatten ja wirklich nichts dabei, was verboten war.
Wir wollten hier nichts riskieren, denn wir wussten, dass wenn wir hier an der Grenze einmal negativ auffallen, würde man uns vielleicht im nächsten Jahr keine Einreisegenehmigung mehr erteilen. Und das hätte bedeuten können, dass wir unsere große Eichsfelder Verwandschaft für lange Zeit nicht mehr hätten sehen können. Wo das Eichsfeld ist? Das Eichsfeld ist sowas wie das kleine gallische Dorf, dass den Römern einhalt geboten hatte – nur in Thüringen – und der Einhalt galt der russischen Besatzung.
Heiligenstadt und Bodenrohde – Braunkohlegeschwängerte Luft setzte das sichere Signal – wir sind angekommen. Herzlicher wurden wir wohl an keinem anderen Ort jemals empfangen als hier. Eine Großfamilie mit wohl für die Eichsfelder typischem unantastbarem Zusammenhalt.
Das kannten wir aus unserer noch immer „neuen“ fränkischen Heimat nicht „Passt scho“ ist hier ja bekanntlich schon das höchste der Gefühle – so sagt man. Hier wohnten wir ja erst seit meiner Geburt 1981.
Zuhause fühlten sich meine Eltern und mein noch dort geborener Bruder (damals noch) in BERLIN. Und auch um dorthin zu kommen, mussten wir zwei mal durch die Grenzen der DDR. Einmal an der Grenze von Bayern zu Thüringen und einmal an der Grenze von Brandenburg nach „West-Berlin“. Auf der „Transitstrecke“ hofften wir immer, dass das Auto bloß nicht liegen bleiben würde, denn man durfte nicht vom direkten Weg nach Berlin abweichen, sonst drohten harte Strafen… in diesen Fällen hatten wir ja nur ein „Transit-Visum“ und durften uns nicht weiter in der DDR aufhalten.
1989 – November, die gesamte Familie hatte sich vor dem Fernseher versammelt. Meine Gedanken waren bei unseren Eichsfeldern, zumal eine von ihnen bei uns war – meine Patentante machte sich Gedanken darüber, ob ihr Mann mit Familie vielleicht schon auf dem Weg zur bereits offenen Grenze nach Ungarn unterwegs ist. Und nun wurde live übertragen:
„Ja… wenn ich das richtig verstehe gilt das ab sofort. Die Grenze der DDR ist offen…“
So oder so ähnlich lauteten die Worte, die bei uns allen ein zunächst ungläubiges, aber dann doch zunehmend und unwiderrufliches Gefühl des Glücks auslöste. Telefon – das gab es nicht. Auch kein Facebook oder ähnliches. Sonst hätten wir wohl unserer gesamten Verwandschaft geschrieben: JUHUUU, WIR SIND WIEDER VEREINT. LASST UNS FEIERN!
Und das taten wir – ich weiß nicht mehr wie viel später das war, aber nachdem wir in Berlin an der teils schon zerklopften Mauer mit unseren Berlinern feierten, traf ich mich mit meinem Vater und meinem Eichsfelder Patenonkel und seinem Sohn an der direkten Grenze Bayern-Thüringen. Wir hatten ein bisschen Werkzeug dabei. Und ich habe noch heute die zutiefst bewegenden Bilder vor augen, wie wir gemeinsam den Zaun des „Todesstreifens“ demontierten. Nur ein Stück natürlich – aber von unvorstellbar riesiger symbolischer Wirkung für uns alle.
Liebe Eichsfelder, Liebe Berliner, liebe gesamte Familie und liebes vereintes Deutschland. Ich bin froh, dass wir zusammen sind und dass uns die Geschichten von Grenzern und Spiegelwägen heute nur noch eine zusätzliche Verbindung geben.